Hinter den Mauern – Eine Radreise entlang der Balkanroute

Perspektiven

Hinter den Mauern – Eine Radreise entlang der Balkanroute

Hinter den Mauern: Eine Radreise entlang der Balkanroute und die Realität der Schutzsuchenden

Von Österreich bis nach Griechenland. Knapp 3000km in drei Monaten. Franziska Heimrich machte sich letzten Sommer mit dem Fahrrad auf den Weg gen Südosteuropa. In diesem Beitrag berichtet sie von ihrer Radreise, in der sie nicht nur die Schönheit Südosteuropas erlebt, sondern sich auch mit den Auswirkungen der europäischen Außenpolitik auseinandersetzt. Vielleicht kann sie euch ja inspirieren, neue Orte mit dem Fahrrad zu erkunden.

Es war eine Reise auf zwei Rädern, die mich durch atemberaubende Landschaften, lebendige Städte und abgelegene Dörfer führte. Über knapp 3000km fuhr ich mit Fahrrad und Zelt von Österreich durch Länder des Westbalkans bis nach Griechenland und setzte mich auch mit der europäischen Außenpolitik auseinander. Zwischen den kulturellen Begegnungen und den beeindruckenden Naturschönheiten gab es eine andere, bedrückendere Realität: die Spuren jener, die nicht aus Abenteuerlust, sondern aus purer Not unterwegs sind. Entlang der Balkanroute begegnete ich den Geschichten derer, die auf der Suche nach Sicherheit und einem besseren Leben Europa erreichen wollen – und stattdessen auf verschlossene Grenzen, brutale Pushbacks und zunehmende Menschenrechtsverletzungen stoßen[1].

Migration ist eine der drängendsten Menschenrechtsfragen unserer Zeit. Menschen verlassen ihre Heimat nicht leichtfertig – sie fliehen vor Krieg, Armut, politischer Verfolgung oder den Folgen des Klimawandels. Doch anstatt Schutz zu finden, werden sie oft mit Gewalt, Entrechtung und systematischer Abschottung konfrontiert. Wer sich mit Migration beschäftigt, muss dies aus einer menschenrechtlichen Perspektive tun: Es geht um das Recht auf Bewegungsfreiheit, das Recht auf Asyl und die universellen Menschenrechte, die jedem Menschen zustehen – unabhängig von seinem Herkunftsland oder seinem Aufenthaltsstatus. Die Realität entlang der Balkanroute zeigt jedoch, dass diese Rechte systematisch verletzt werden. Dies wurde mir während meiner Radreise durch Südosteuropa immer wieder bewusst.

Bosnien und Herzegowina hat sich seit 2018 zu einem zentralen Knotenpunkt auf der Balkanroute entwickelt. [2] Während die Routen sich verschieben, bleibt die Hauptstadt Sarajevo Dreh- und Angelpunkt, an dem konstant Menschen ankommen, weiterziehen oder wohin sie gewaltvoll und häufig mehrfach gepushbackt werden. Die umliegenden Lager sind oft überfüllt oder können die Bedarfe der Menschen nicht ausreichend decken. Wie auch anderswo stellen Gewalt und Kriminalität innerhalb der Lagerstrukturen zusätzliche Bedrohungen für die Menschen, die dort leben müssen, dar.

Die Gewalt an den Grenzen ist real und die Bedrohung hat sich noch verschärft: Menschenhandel, Erpressung und Missbrauch nehmen zu, während die Möglichkeiten für Schutzsuchende, ihre Rechte geltend zu machen, immer weiter schwinden. Gleichzeitig wurde in vielen europäischen Ländern der politische Ton gegenüber Schutzsuchenden weiter verschärft. Gerade in Wahlkampfzeiten werden Menschen mit Migrationshintergrund instrumentalisiert, um Ängste zu schüren und Wählerstimmen zu gewinnen. Die Rhetorik verhärtet sich, Abschottungspolitik wird als Lösung propagiert – auf Kosten derer, die längst unter den Folgen dieser Politik leiden.

Wege der Integration in Sarajevo

Als ich in Sarajevo ankomme, werde ich herzlich von Ines begrüßt. Viel Zeit hat sie nicht, denn im Laufe des Tages wird sie ca. 30 People on the Move (PoM) in den Räumlichkeiten des Community Centers Kompas 071 willkommen heißen. Hier können sie außerhalb der großen Lager Sarajevos selbstbestimmt Kleidung und Lebensmittel aus einem Umsonstladen aussuchen, Duschen und Sanitäranlagen nutzen, Wäsche waschen und elektronische Geräte aufladen. In einem Gemeinschaftsraum gibt es Getränke, Bücher und Spiele sowie die Möglichkeit für Austausch.

In den Gesprächen wird deutlich, was die Menschen hier gemeinsam haben: Die Hoffnung auf Arbeit und Sicherheit. In Sarajevo wollen sie nicht bleiben. Die Lager sind überfüllt und es gibt kaum Integrationsmöglichkeiten. Außerdem ist allen die bevorstehende Gewalt an der europäischen Außengrenze bewusst. Keiner ist schockiert, als eine Person von ihrem ersten Versuch berichtet. Der junge Mann zeigt sein verbogenes Handy und erklärt, dass das bei einem Pushback ein paar Tage zuvor passiert sei. Er habe mit der Polizeigewalt gerechnet. Er sei sich aber sicher: Aufhalten könne die Polizei ihn am Ende nicht. Trotz der erneut drohenden Gewalt werde er es auf anderem Wege erneut versuchen, die kroatische Grenze in die EU zu überqueren. Neben ihm sitzen drei etwa 14-jährige Jungs. Sie sind seit sechs Wochen unterwegs und hätten seit Tagen nicht geschlafen. Bei dem Blick in diese müden Augen erkenne ich, dass es bei den politischen Diskussionen nicht um irgendeine Parteifarbe geht, sondern legitime Grundbedürfnisse, um die Rechte und die Würde von Menschen.

Am nächsten Tag treffe ich noch Sanela in Sarajevo. In den großen hellen und schön eingerichteten Räumen zeigt sie mir Fotos von ihrer früheren Tätigkeit. Auf den Fotos sieht man das unmittelbare Leid; hungernde und frierende Menschen, die an der bosnisch-kroatischen Grenze feststecken. Nach Jahren der humanitären Erstversorgung war sie müde, leidvolle Bilder von Geflüchteten zu produzieren. Sie gründete deshalb das World Travelers Community Center „Intergreat“ und verfolgt nun einen ganzheitlichen Unterstützungsansatz.

Initiatorin Sanela hat sich zum Ziel gesetzt, die Unterstützungsstrukturen in und um Sarajevo so zu vernetzen, dass diese aufgabenteilig und koordiniert eine möglichst effektive Versorgung von Menschen auf der Flucht gewährleisten können. Mit ihrem Konzept will sie den Menschen neue Perspektiven ermöglichen und damit auch ein anderes Bild von Geflüchteten vermitteln – nicht als Opfer, sondern als Menschen mit eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten. „Intergreat“ bietet kostenlose Rechtsberatungen, Begleitung bei Behördengängen und Fortbildungen wie Sprachunterricht, die langfristig bei der Integration in Bosnien und Herzegowina helfen sollen. Was in Deutschland als Selbstverständlichkeit gilt, muss in Bosnien und Herzegowina ganz ohne staatliche Unterstützung erst organisiert werden. Sanela setzt sich dafür ein, die Arbeitsmarktintegration zu ermöglichen, damit PoM nicht gezwungen sind, weiterzureisen.

Eindrücke, die bleiben

Während der Reise treffe ich mal geplant, mal ungeplant andere Radreisende. Mal tauscht man sich nur kurz aus, mal reisen wir mehrere Tage oder Wochen miteinander. Die vielfältigen Begegnungen helfen über die Strapazen und Ängste hinweg, die mit einer solchen Reise einhergehen: Angst vor dem Alleinsein, Angst, mein Fahrrad nicht reparieren zu können, Angst, etwas zu verlieren, Angst, keinen Schlafplatz zu finden, Angst vor den Wildhunden, Angst, nicht genug zu essen zu haben, Angst vor Unwetter, Angst, dass mir etwas zustößt. Je länger ich unterwegs bin, desto mehr merke ich, wie sehr wir gegenseitig gebraucht werden, dass Menschen gerne helfen und dass ich das alles auch nicht alleine schaffen muss.

Diese Radreise war mehr als eine sportliche Herausforderung. Sie war eine Reise in eine Realität, die in politischen Debatten oft bewusst ausgeblendet wird. Hinter den Mauern und den Wahlkampfslogans stehen Menschen mit Hoffnungen, Träumen – und einer Geschichte, die gehört werden muss. Es ist eine Sache, im Vorhinein die Berichte über die gewaltvolle Situation entlang der Balkanroute zu hören oder zu lesen. Eine andere Sache ist es aber, selbst mit Menschen in Kontakt zu kommen, mit Menschen, die von der europäischen Außenpolitik unmittelbar betroffen sind. Menschen, die mir mit müden Augen ihr kaputtes Handy zeigen, das bei einem gewaltvollen Pushback von der kroatischen Polizei kaputt gegangen ist.

Mit der Zeit entwickelt sich ein Gefühl, dass nicht ich diese Reise mache, sondern sie mir geschieht. Ich kann weder planen, wo ich am Abend schlafe, noch wo ich einkaufe oder wen ich treffe. Vieles entzieht sich meiner Kontrolle und vielleicht ist es auch das, was ich am meisten aus der Radreise mitnehme: Es geht nicht so sehr darum, was ich will, sondern was das Leben von mir verlangt. Dadurch kann ein Gefühl entstehen, in genau dem richtigen Moment an genau dem richtigen Ort zu sein – unabhängig von den äußeren Gegebenheiten.

Ich möchte an dieser Stelle ein großes Danke sagen an alle Menschen, die meinem Spendenaufruf gefolgt sind. Ich kann 1500 Euro an die Spendenprojekte der Balkanbrücke übermitteln. Das Geld geht an die lokalen Projekte, die rein auf private Mittel angewiesen sind.

Ein besonderer Dank geht an Johanna und Theresa von der Balkanbrücke, die die Aktion ermöglicht und begleitet haben. Außerdem danke ich meiner Schwester Johanna, die mich sowohl in der Vorbereitung als auch während der Reise unterstützt und den Artikel Korrektur gelesen hat.

Vielen Dank liebe Franzi, für deine Offenheit, deinen Einsatz, den tollen Bericht und die Spendengelder, die dank deiner Unterstützung an Ines, Sanela und Co. weitergeleitet werden können!

 


[1] Kritik an gewaltsamen Pushbacks an den EU Außengrenzen kommt auch von Human Rights Watch: [https://www.hrw.org/de/news/2023/05/03/kroatien-anhaltende-gewaltsame-pushbacks](file:///C:/Users/Admin/AppData/Local/Temp/msohtmlclip1/01/clip_filelist.xml)

[2] Die offiziellen Zahlen der bosnischen Behörden zeichnen ein klares Bild: Im Jahr 2023 wurden 34.409 Neuankünfte registriert – ein Anstieg von 26 % im Vergleich zum Vorjahr. 2024 waren es rund 25.000, also 10.000 weniger als im Jahr zuvor. Während diese Zahlen auf den ersten Blick einen Rückgang suggerieren, zeigen sie bei genauerem Hinsehen vor allem eine beschleunigte und gefährlichere Fluchtbewegung. In den vier verbleibenden Aufnahmeeinrichtungen des Landes, vor allem in Sarajevo und Bihać, befanden sich Ende 2024 noch etwa 800 Menschen – viele von ihnen aus Marokko, Afghanistan und Syrien.

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