Menschenrechte auf der Strecke: Die Situation von People on the Move in Bulgarien

Perspektiven, Stimmen vor Ort

Menschenrechte auf der Strecke: Die Situation von People on the Move in Bulgarien

Bulgarien, Außengrenzstaat der Europäischen Union, ist zum Symbol einer migrationspolitischen Sackgasse geworden. Was auf dem Papier als „europäische Lösung“ firmiert, bedeutet für Schutzsuchende in der Realität: systematische Entrechtung, Haft und existenzielle Not. Unter dem Druck der EU, die Zahl ankommender Geflüchteter gering zu halten, erfüllt Bulgarien vor allem eines: Abwehr um jeden Preis. Nicht immer gelingt das. Menschen finden immer Wege, um Grenzen zu überwinden, Absperrungen zu umgehen und der Polizeiüberwachung zu entkommen. Schaffen sie es bis nach Deutschland, dann sehen sie sich mit der Gefahr einer Dublin-Rücküberstellung nach Bulgarien konfrontiert. Denn nach der Dublin-Verordnung ist immer der EU-Staat für die Prüfung des Asylgesuchs zuständig, den die Menschen zuerst betreten haben. Was das für Betroffene bedeutet und warum wir endlich wieder mehr über Bulgarien sprechen müssen, haben wir in einem Webinar am 14.05.2025 mit unseren Gästen besprochen. (Das Webinar kann übrigens   hier nachgeschaut werden.)

„Bulgarien muss eine Bedingung erfüllen. Es muss die Europäische Außengrenze dicht halten und die Zahl der ankommenden Geflüchteten in der Europäischen Union klein halten“, erklärt Desislava Todorova vom “Center for Legal Aid – Voice of Bulgaria”.

Nach einem 2025 von neun Menschenrechtsorganisationen herausgegebenen Bericht wurden 2024 über 120.000 gewaltvolle Pushbacks an den EU-Außengrenzen durchgeführt. Im Ranking der Top-Pushback-Länder steht Bulgarien ganz oben: 52.534 Fälle wurden für 2024 gezählt. Pushbacks führen nicht selten zu Tragödien: Mindestens 93 Menschen starben 2022 und 2023 auf ihrem Weg durch Bulgarien, wie eine Recherche von ARD, Lighthouse Reports und anderen belegt. Sind die Menschen erstmal im Land, werden Pushbacks auch unter dem Deckmantel der „freiwilligen Rückkehr“ durchgeführt, wie Desislava und unsere anderen Gäste beschreiben. Jonathan vom Kölner Spendenkonvoi berichtet von systematischem Druck in Haftlagern, wo Schutzsuchende zur Unterschrift zur „freiwilligen Rückkehr“ gezwungen werden – unter Bedingungen, die schlimmer seien, als in jedem Gefängnis. Erst vor kurzem ist eine Delegation des Kölner Spendenkonvois zu einer Recherchereise nach Bulgarien aufgebrochen. Den spannenden und super wichtigen Bericht könnt ihr hier lesen.

Die Realität von Menschen, die nach Bulgarien abgeschoben werden, ist erschütternd. Sie landen häufig in Haft, ohne Zugang zu Rechtsberatung, ohne Dolmetscher*innen, ohne Informationen. 2023 wurden in 96 % der Fälle Rückkehrer*innen sofort inhaftiert – teils bis zu 18 Monate lang.

„Wir haben mit Menschen gesprochen, die seit Monaten in Haft sind, ohne zu wissen, warum. Sie erhalten keine rechtliche Unterstützung, keine Informationen. Das ist nicht europäisch – das ist archaisch“, berichtet Jonathan.

Aufenthalt in Aufnahmeeinrichtungen – sofern überhaupt verfügbar – bedeutet ebenfalls kein menschenwürdiges Leben. Überbelegte Zimmer, verschimmelte Matratzen, keine Verpflegung, mangelnde Hygiene und Gewalt durch Personal und Polizei prägen den Alltag.

Auch anerkannte Geflüchtete trifft die Gleichgültigkeit des Systems. Wer in Bulgarien Schutz erhält, muss binnen 14 Tagen das Camp verlassen – ohne Hilfe, ohne Zugang zu Wohnraum, ohne jede Integrationsmaßnahme. Todorova bringt es auf den Punkt:

„Bulgarien hat eine Null-Integrations-Politik. Es gibt keine funktionierenden Programme, die den Zugang zur grundlegenden Versorgung ermöglichen.“

Und dennoch schiebt Deutschland nach Bulgarien ab: 2023 wurden 275 Dublin-Rückführungen nach Bulgarien durchgeführt, über 5.900 Übernahmeersuchen gestellt – trotz dokumentierter systemischer Mängel und zahlreicher Gerichtsurteile, die diese bestätigen.

Esme und Ric von No Name Kitchen berichten, dass viele Abgeschobene obdachlos werden, ohne Zugang zu Nahrung, medizinischer Versorgung oder rechtlicher Hilfe. Die Aussage: 

„Alle müssen auf der Straße leben und für sich selbst sorgen“

ist traurige Realität. Selbst Notrufe in lebensbedrohlichen Situationen verhallen ungehört: Im Dezember 2024 starben drei ägyptische Jugendliche an der bulgarischen Grenze – trotz GPS-Koordinaten, trotz Hilfeversuchen von Freiwilligen. Die Polizei blockierte die Rettung. Einen Bericht über diesen Vorfall könnt ihr hier nachlesen. Die Freiwilligen von No Name Kitchen und anderen Organisationen füllen eine Lücke im System und versorgen die Menschen mit dem Nötigsten. In Bulgarien ist besonders die medizinische Ersthilfe großes Thema, wie Esma und Ric uns berichten.

Cecilia vom Netzwerk Kirchenasyl Berlin/Brandenburg trifft Menschen in Deutschland, die von Dublin-Abschiebungen bedroht sind. Das Netzwerk berät Menschen und Organisationen zur Möglichkeit des Kirchenasyls. Diese rechtliche Grauzone kann Menschen vor drohenden Abschiebungen Schutz bieten, indem sogenannte „Überstellfristen“ ausgesessen werden. Im gesamten Jahr 2024 gab es in der Region Berlin-Brandenburg 183 Kirchenasyle mit insgesamt 243 Personen, die in Berliner und Brandenburger Gemeinden Schutz gefunden haben, darunter 40 Kinder, wie das Netzwerk berichtet. Das Kirchenasyl kann eine Lösung in individuellen Fällen sein – das Problem ist aber ein systematisches, wie Cecilia deutlich macht. Auch sie war selbst schon in Bulgarien und beschreibt mit anderen in einem ausführlichen Bericht die Lebensbedingungen von Dublin-Rückkehrer*innen in Bulgarien. Ihr findet den Bericht hier.

Für Cecilia ist klar: „Deutsche Gerichtsentscheidungen im Asylprozess sind ganz weit entfernt von der Realität. Zudem basieren sie häufig auf Falschinformationen, die teilweise Jahre alt sind.“

Die politische Umsetzung des neuen EU-Migrationspakts, also der Reformen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), in Bulgarien verschärft die Lage zusätzlich. Anstatt Rechte zu stärken, wird auf neue Grenzverfahren und mehr Haft gesetzt. Die Zivilgesellschaft bleibt außen vor.

„Der Pakt bietet nichts für Grundrechte – nur weitere Papiere, Berichte, Bürokratie. Es gibt keine Mechanismen, um Menschenrechtsverletzungen zu ahnden“, so Todorova.

Bulgarien ist nicht bereit für die Umsetzung des Pakts – das zeigen Berichte von Menschenrechtsorganisationen und Aktivist*innen. Die politische Lage ist angespannt, rechte Kräfte nutzen jede Debatte für ihre Zwecke. Der EU-Ansatz, Verantwortung auf Länder wie Bulgarien abzuwälzen, schafft keine Lösungen – sondern neue Krisen.

„Wir können keine nachhaltige Migrationspolitik etablieren…Wir schwimmen nur in Kreisen, wie ein Fisch im Teich“, beschreibt Todorova das politische Versagen treffend.

Abschiebungen in solche Zustände sind nicht nur unmenschlich – sie stehen auch im Widerspruch zum europäischen Selbstverständnis und zu den Grundrechten, auf die sich die EU beruft. Bulgarien ist kein sicherer Ort für Schutzsuchende. Die Politik muss endlich auf die Stimmen der Betroffenen, Aktivist*innen und Jurist*innen hören – und handeln.

Was können wir als Zivilgesellschaft in Deutschland tun?

“Das Thema wird fast nicht mehr behandelt. Ich denke, wir müssen dahin zurück, dass die Zivilgesellschaft für eine andere Politik eintritt und zumindest fordert: ‚Die Menschen sollten in Würde leben können, in Sicherheit, und Kinder sollten Zugang zu Bildung haben‘, und so weiter. Aber im Moment interessiert das niemanden in der Gesellschaft. Das muss sich ändern.“ meint Jonathan.

Informiert euch über die Situation in Bulgarien – es gibt viele Berichte. Einige haben wir euch in diesem Beitrag markiert. Erzählt weiter, was ihr gelesen habt. Und wenn ihr könnt: Spendet an Organisationen, die sich tagtäglich für People on the Move und ihre Rechte einsetzen. Wenn ihr nicht wisst, wie und wohin, dann helfen wir euch gerne. Spendet einfach an unseren „Notfalltopf“ und wir verteilen die Gelder an die Projekte, die akuten Bedarf haben. Das Center for Legal Aid – Voice in Bulgaria ist außerdem ein neues Spendenprojekt der Balkanbrücke. Mehr Infos zu ihrer Arbeit findet ihr hier

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