Balkanbrücke und News von unseren Partnerprojekten auf der Kritnet-Konferenz 2024
Unter dem Titel „Zur Neuaufstellung einer kritischen Grenz- und Migrationsforschung im Kontext autoritaistischer Wenden“ kamen am Wochenende vom 25.-27. Oktober 2024 ca. 60 Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen in Göttingen zu einer Konferenz des Netzwerks „Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet)“ zusammen. Nicht nur im öffentlichen und politischen Diskurs bleibt die Situation von People on the Move und ihren Unterstützer*innen an den südosteuropäischen Außengrenzen der EU weiter unterrepräsentiert: Es fehlt darüber hinaus auch an wissenschaftlicher Aufarbeitung und Debatte über diese Themen.
Darum haben wir uns umso mehr gefreut, dass die Balkanbrücke einen Beitrag mit dem Titel „Migration entlang der ‚Balkanroute(n)‘: Stetige Herausforderungen und neue Entwicklungen“ einbringen konnte. Gemeinsam mit unseren Gästen Marijana Hamersak (Wissenschaftlerin am Institut für Ethnologie und Folklore in Zagreb und Mitherausgeberin des Speccial Issue der Zeitschrift Movements „The Frontier Within: The European Border Regime in the Balkans“ von 2020), Milica Svabic (Rechtsanwältin bei KlikAktiv, unserem Partnerprojek in Belgrad) und Sanela Klepic (Gründerin unseres Partnerprojekts World Travelers Community Center – Intergreat in Sarajevo) setzten wir uns intensiv mit der komplexen Dynamik der Migrationsbewegungen entlang der ‚Balkanroute(n)‘ auseinander und fokussierten dabei neue Trends und Entwicklungen.
Kroatien und der gescheiterte Versuch der „internen Externalisierung“
Marijana warf einen Blick zurück auf die Zeit von 2015 und 2016, als entlang der ‚Balkanroute‘ ein staatlich geduldeter Korridor für People on the Move entstand, der eine relativ sichere Flucht nach Westeuropa ermöglichte. Sie erinnerte an den „langen Sommer der Migration“ und wie es für einen kurzen Moment möglich schien, das restriktive und gewalttätige EU-Grenzregime zu durchbrechen. Mit dem „EU-Türkei-Deal“ im Frühjahr 2016 änderte sich die Situation jedoch: Die „Schließung“ des Korridors markierte den Beginn einer strengen Kontrollpolitik der kroatischen Behörden. Marijana sprach von Polizeigewalt und Pushbacks an der bosnisch-kroatischen Grenze, was die kroatische Regierung lange leugnete, bis die Präsidentin schließlich zugab, dass „ein wenig Gewalt notwendig ist“. Trotz umfangreicher Dokumentation der Gewalt durch aktivistische Netzwerke und mehrerer Gerichtsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist die Zeit seit 2016 von der Dominanz brutaler, „spektakularisierter“ Gewalt geprägt, die oft sogar von der EU finanziert wird, wie Marijana in ihrem Vortrag feststellte.
Die Situation änderte sich im Frühjahr 2022, als der Transit durch Kroatien mit der Ausstellung der so genannten „Sieben-Tage-Papiere“ erleichtert wurde. Dieses Dokument wies Personen an, den Europäischen Wirtschaftsraum innerhalb von sieben Tagen zu verlassen, aber in welche Richtung wurde kaum kontrolliert. Seitdem hat sich die Situation mehrmals geändert, aber es ist offensichtlich, dass eine Art Transit durch Kroatien einfacher geworden ist als zuvor, was dazu führte, dass People on the Move zu bestimmten Zeiten im öffentlichen Raum sichtbarer wurden (Humanitarian Hubs an den Bahnhöfen in Zagreb und Rijeka wurden eröffnet und dann wieder geschlossen). Das alles führte zu einem vorübergehenden Rückgang der gewaltsamen Pushbacks an der bosnisch-kroatischen Grenze bis zum Herbst 2023 sowie zu einer Auslagerung der Gewalt in die Natur (Opferzahlen steigen) und die Verwaltung (Dublin-Regulierung). Marijana beschreibt die Bemühungen kroatischer und benachbarter Behörden, die EU-Außengrenze durch verstärkte Abschreckungs- und Kontrollmaßnahmen zu „schützen“ und zu kontrollieren („Performance of Control“), während gleichzeitig ein „Schattenkorridor“ entstanden ist, durch den People on the Move leichter durch Kroatien reisen konnten und können. Sie argumentiert, dass die Versuche einer internen Externalisierung der EU-Grenzen, bei der die Grenzstaaten die Verantwortung für den Grenzschutz und die Asylverfahren übernehmen (Dublin-Verordnung), offensichtlich aus verschiedenen Gründen gescheitert sind. Menschen, die im Rahmen von Dublin zurück nach Kroatien abgeschoben wurden, werden sich vermutlich bald wieder auf den Weg machen, wie die weggeworfenen Abschiebepapiere an der kroatischen und slowenischen Grenze zeigen. Weitere Einzelheiten zu Marijanas Präsentation findet ihr in den Artikeln zu „Seven Days Paper“, „Dublin“ oder „Paromlin“, die auf e-ERIM veröffentlicht wurden, einer Webseite, die aus einem ihrer letzten Forschungsprojekte zum Thema hervorgegangen ist.
Serbien und Rückübernahmeabkommen: Die Formalisierung von Pushbacks
Milica berichtete über die Praxis, das Rückübernahmeabkommen zwischen der EU und Serbien aus dem Jahr 2007, als Möglichkeit der Rückführung von Drittstaatsangehörigen zu nutzen. Die EU hat mit vielen Staaten sogenannte Rückübernahmeabkommen geschlossen, um deren Staatsangehörige im Falle eines „illegalen“ Aufenthalts zurückzuschicken. Eine Klausel erlaubt es jedoch auch benachbarten EU-Mitgliedstaaten, Drittstaatsangehörige nach Serbien zurückzuschicken, wenn davon ausgegangen werden kann, dass die betreffende Person direkt aus Serbien in den Mitgliedstaat eingereist ist. In den letzten Jahren, so Milica, sei es üblich geworden, dass Menschen aus den benachbarten EU-Mitgliedstaaten (Rumänien, Ungarn und Kroatien) auf der Grundlage des Rückübernahmeabkommens nach Serbien abgeschoben werden, wobei ihre individuellen Asylanträge und ihr Recht, internationalen Schutz zu suchen, ignoriert werden. KlikAktiv dokumentierte eine Reihe solcher Rückführungen, darunter so genannte Kettenabschiebungen, bei denen Asylbewerber*innen aus EU-Ländern wie Österreich oder Deutschland (im Rahmen der Dublin-Verordnung) zunächst nach Rumänien und von dort aus nach Serbien abgeschoben wurden. Diese „formalisierten Pushbacks“ mit Hilfe von Rückübernahmeabkommen verweigern den Schutzsuchenden effektiv den Zugang zu Asylverfahren und lassen sie bei ihrer Ankunft in Serbien oft in äußerst prekären Verhältnissen zurück. Weitere Einzelheiten über die Praxis der Rückübernahmeabkommen zwischen Rumänien und Serbien findet ihr im KlikAktiv-Report„Formalizing Pushbacks: The use of readmission agreements in pushback operation at the Serbian-Romanian border“, der auf der Website von Klikaktiv verfügbar ist. Im Hinblick auf die jüngste Verschärfung der EU-Migrationspolitik im Rahmen der Reformen des „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS)“ wies Milica darauf hin, dass es offensichtlich sei, wie Nicht-EU-Länder wie Serbien und Bosnien und Herzegowina zunehmend dazu benutzt würden, sich der Verantwortung für Schutzsuchende zu entziehen.
Bosnien und Herzegowina: Die Schattenseiten des EU-Beitritts
Sanela berichtete in ihrem Input von den aktuellen Entwicklungen in Bosnien und Herzegowina und den schrittweisen Übergang des ‚Migrationsmanagements‘ in die Verantwortung der bosnischen Behörden. Im September 2024 trafen sich der bosnische Minister für Sicherheit, Nenad Nešić, und der Minister für Menschenrechte und Flüchtlinge, Sevlid Hurtić, mit dem EU-Botschafter Johann Sattler, um diese Übergabe zu besprechen. Eine zentrale Bedingung für den EU-Beitritt Bosnien und Herzegowinas ist die „effektive Verwaltung der Grenzen sowie des Asylsystems“. Seit 2018 habe die EU mehr als 140 Millionen Euro bereitgestellt, um die Kapazitäten auszubauen. Die Gelder flossen vorwiegend an die Internationale Organisation für Migration (IOM), die für die Verwaltung aller offiziellen Camps zuständig war und teilweise noch ist, berichtete Sanela. Eine Organisation, die sich als humanitäre Akteurin, als Menschenrechtsorganisation darstellt, wird somit zu einer Dienstleisterin im staatlichen Auftrag, die tief in die Kontrolle und das ‚Management‘ von Migration verwickelt ist. Die Begründung, die sich oft auf die vermeintliche ‚Unregierbarkeit‘ des Staates und die fehlende Kooperationsbereitschaft der lokalen Behörden stützt, erscheint mindestens klischeebehaftet, reflektiert darüber hinaus auch das ungleiche Machtverhältnis zwischen den beteiligten Akteuren und stellt die Autonomie der lokalen Behörden in Frage. Die vollständige Übergabe dieser Verantwortung an die bosnischen Behörden wird bis Mitte 2025 erwartet.
Eine weitere Voraussetzung für den EU-Beitritt des Landes ist die Kooperation mit FRONTEX, auf die Sanela in ihrem Input hinwies. Die Verhandlungen über den Einsatz von Frontex-Grenzschutzbeamt*innen in Bosnien und Herzegowina befinden sich in der finalen Phase, wie die EU-Delegation in BiH am 17. Oktober bestätigte. Die Gespräche über ein entsprechendes Abkommen laufen seit Februar. Bosnien ist das einzige Land in der Region ohne ein Frontex-Abkommen. Bislang bewachen 1.800 bosnische Beamt*innen ca. 1.500km Grenze. Die Rolle von Frontex in Südosteuropa, außerhalb des EU-Territoriums stößt regelmäßig auf Kritik. Der Direktor von Frontex, Fabrice Leggeri, trat wegen eines Menschenrechtsskandals zurück, der durch eine gemeinsame Untersuchung ausgelöst wurde, die im April 2022 von Lighthouse Reports, Der Spiegel, SRF Rundschau, Republik und Le Monde veröffentlicht wurde. Die Untersuchung deckte die Beteiligung von Frontex an illegalen Pushbacks von Asylsuchenden von Griechenland in die Türkei zwischen März 2020 und September 2021 auf. Wenn ihr mehr über Frontex erfahren wollt, haben wir hier einen Überblick zu unterschiedlichen Problemfeldern zusammengestellt (Stand 2021) und zuletzt einen Blogbeitrag zum 20jährigen Bestehen der Agentur veröffentlicht.
Unser Workshop und die gesamte Kritnet-Konferenz waren geprägt von ehrlichem Interesse, von interessierten Nachfragen, von kritischen Debatten. Wir sind dankbar für unsere vielseitigen Netzwerke und Unterstützer*innen und freuen uns auf die nächste Möglichkeit mit unseren Projektpartner*innen und vielen anderen ins Gespräch zu kommen!